Von 100 auf Null. Ein Radunfall mit Folgen

Sonntag, 4.6.2023. Es ist 19:30. In einem Bett liegend werde ich auf eine Station im Krankenhaus gefahren. Um 8 morgens war ich zur OP abgeholt worden. Ich habe kein Zeitgefühl, aber gefühlt war es eine Ewigkeit. Es war unglaublich lange. Mehrere Stunden OP und mehrere Stunden Aufwachraum. Mein Lieblingsmensch, meine Frau ist da, spricht liebevoll auf mich ein und holt mich wieder in die Realität zurück. Was war passiert?

Ich erinnere mich an einen Radunfall bei einer schnellen Trainingsfahrt keine 30h zuvor, aber mit Beteiligung anderer. Ich erinnere mich an – alles. Ich weiß genau wie es wahrscheinlich (die eigene Erinnerung ist ja ein sehr unsicherer Kantonist) passiert ist und was alles danach kam. Ich konnte kühl und reflektiert bleiben, weil ich realisieren konnte, dass die Schmerzreaktion wegen des Adrenalins erst viel später einsetzen würde. Trotz des sicheren Bewusstseins, dass gerade was sehr Heftiges über mich hereingebrochen war. Das Adrenalin hat den Schmerz vollkommen verdrängt. Ich kann mich noch an die Gespräche mit den anderen Unfallbeteiligten erinnern. Wie ich eine Frau gebeten habe, mir den Bremshebel aus dem Kopf zu ziehen und mich nicht auf den Rücken legen wollte, weil dann das Blut den Rachen runtergelaufen wäre. Wie ich dem beteiligten Mädchen, das ganz bitterlich geweint hat, gesagt habe, dass es nicht so schlimm sei. Ich kann mich noch an das Gesicht der Ersthelferin erinnern, als sie mich gesehen hat. Und wie sie mir einen Zugang gelegt und mich mit einem Schmerzmittel versorgt hat, obwohl ich noch gar keine Schmerzen hatte, so viel Adrenalin war noch in mir. Ich kann mich an die freundlichen Pfleger und Pflegerinnen in der Unfallaufnahme in Wissembourg erinnern, die mich zu rasieren versucht haben, um die äußerliche Wunde besser versorgen zu können. Die hatten gar nicht realisiert, dass da was in den Kopf eingedrungen war. Und auch an das Gesicht der Unfallärztin in der Klinik, kann ich mich noch erinnern als sie die CT-Aufnahmen gesehen hat. „Alles kaputt!“ hat sie gemurmelt und geglaubt, dass ich es vielleicht nicht höre. Erst da hatten sie realisiert, was passiert war. Sie haben dann entschieden, dass dies ihre Kompetenz überschreitet und dass ich nach Strassburg oder Karlsruhe müsste. „So?“ hatte ich gefragt und auf mein verblutetes und zerschnittenes Radtrikot gezeigt. 

Trigger-Warnung: In der Notaufnahme in Wissembourg.

Aber meine Ohren waren gesund, nur mein Kiefer war zertrümmert. Einer der Bremshebel der anderen Fahrräder hatte meine Wange links am Kinnwinkel durchschlagen und war weit in den Mundraum gedrungen. Dabei wurde auch der Gaumen arg beschädigt. Das alles konnte wieder repariert werde und nach 4 Tagen war ich wieder raus. Aufrecht und auf den eigenen Beinen! Wie bitte, fragst du dich vielleicht? Nach einer mehrstündigen OP mit Vollnarkose, die eine mit 40 Stichen genähte Operationsnarbe hinterlassen wird, und zahlreichen weiteren Unfallnarben, die auch mit ca 20 Stichen genäht wurden? Ich war ja selber erstaunt, aber der Arzt sagte, dass ich in einem bemerkenswerten Zustand wäre. Mit meinen 56 sei ich fitter als so mancher 30-Jährige, alle Vitalwerte sehen eher aus wie bei jungen Menschen, ich hätte keine Allergien oder „die üblichen“ Gesellschaftskrankheiten von Menschen meiner Generation. So was hört sich natürlich super an und, so arrogant bin ich, ich hatte es nicht anders erwartet. Da ich seit Jahren mein eigenes Programm lebe und konsequent einen guten Lebensstil praktiziere und den auch an meine Kunden weitervermittele: Gute Ernährung, viel Bewegung, viel Schlaf und eine realitätsbezogene Wirklichkeitskonstruktion.

Trigger-Warnung: Am Tag drauf vor der OP.

Ich sage nicht, dass ich diese Bestätigung geniesse, dafür ist die Enttäuschung, der an mir entstandene Schaden und die damit verbundenen emotionalen und physischen Schmerzen, die es trotz allem gab, einfach zu groß. Man stelle sich vor: Trotzdem ich in der besten Form meines Lebens war, werde ich nicht am IronMan teilnehmen können, auf den ich mich monatelang so akribisch vorbereitet hatte. Ich kann mir also nicht die Belohnung für den Aufwand holen, sondern werde ganz langsam überhaupt erst mit Training wieder anfangen können. Mit Schrauben und Draht im Schädel kann man eben keinen Marathon laufen. Und nach einem Einschlag mit weit jenseits der 40km/h auch nicht. Ich merke ja jetzt noch, wie mein Körper immer noch auf den Einschlag reagiert. Alle paar Tage lässt ein Muskel, der sich im Moment des Sturzes oder während der anschliessenden Behandlungsphase angespannt hatte, wieder los. Danach direkt weitermachen, das müssen nur Profis. Ich dagegen kann das gründlich auskurieren. Aber nächstes Jahr kann ich wieder an den Start gehen. Und zwar stärker denn je. Und das werde ich, weil ich weiß, dass wieder etwas Neues über meine Fähigkeiten gelernt habe: Was dich nicht tötet …..! Denn es war unbestritten knapp! Das hat sogar der Chefarzt, der sich bei der OP eingeschaltet hat, zu mir gesagt. Ein paar cm lagen zwischen mir als Pflegefall oder sogar dem Tod. Ich hatte schliesslich einen Bremshebel im Kopf stecken, der zum Glück nicht ins Ohr zur Wirbelsäule oder in den Hals eingedrungen ist, sondern nur in den Mund.

Beim IM kriegt man auch immer so ein All-Inklusive Band.

Ganz ehrlich manchmal sage ich mir, dass man so viel Glück gar nicht haben kann. Diese paar cm, die mich vor Schlimmerem bewahrt haben. Und ich habe zudem noch das Glück in einem Land zu leben in dem die Unfallmedizin wirklich hochentwickelt ist. In einem anderen Land oder in einer anderen Zeit wäre das vielleicht nicht so glimpflich ausgegangen. Überlebt hätte ich es zunächst, wenn ich die Infektion und die Schmerzen überstanden hätte. Aber in welchem Zustand wäre ich dann gewesen? Einseitig ausgehängter Unterkiefer, abgebrochene Mandibel, durchtrennter Nerv, Knochensplitter und Risse in Zunge und Gaumen …… Beim Heilen und bei der Prävention können wir noch Fortschritte machen, aber Unfälle sind schon sehr gut.

Ich schreibe das alles, obwohl ich noch nichts Festes essen kann oder auch nur kauen darf. Die Operationsnaht unter meinem Kinn fühlt sich immer noch wie eine sehr enge Manschette an und an den Nähten im Gaumen hängt ständig Schleim, der mich beim Schlucken und entspannten Schlafen erheblich behindert. Aber es wird mit jedem Tag besser. Mein Körper reagiert super. Und ich unterstütze ihn mit zusätzlichen Supplementen und einer großen Bandbreite an frischen Nährstoffen aus unserem Garten, leider alles in flüssiger Form, um es ihm aber dennoch möglichst einfach zu machen, alles wieder so herzustellen, wie es war. Oder sogar besser! Auch wenn ich im Moment noch Antibiotika und sogar Schmerzmittel nehmen muss und reichlich Metall im Schädel habe, kann man nicht früh genug damit anfangen dem Körper Pro- und Präbiotika zu geben und mit gesunder Ernährung die Darmflora zu erhalten, denn sie ist es schliesslich, die das Immunsystem und das Gemüt fit hält.

Kann man aus so einem Ereignis Lehren ziehen? Aber so was von! Ich bin regelrecht dankbar, dass ich diese Gelegenheit erhalte. Ok, so hätte es nicht sein müssen, aber ich versuche jede Situation in meinem Leben so zu nutzen, dass ich etwas lerne. Ich schreibe jetzt nicht „man soll ja ….“, denn ich frage mich dann immer, wer ist dieses „man“ denn eigentlich. Und hat er/sie mir überhaupt was zu sagen? Wieso sollte ich ausgerechnet darauf vertrauen? Ich schreibe stattdessen einfach, dass ich 3 Lehren aus solch einem Unfall ziehe:

  1. Wenn Du es überlebst, sei noch dankbarer für das Geschenk des Lebens. Trotz allem Negativem ist es herrlich und irgendwie ein Privileg auf so einem Planeten, der uns so reichlich beschenkt, zu leben. Wir haben keinen anderen!
  2. Was dich nicht tötet, weckt neue Qualitäten in dir! Es zeigt dir, was du alles aushalten kannst. Es stellt dir neue Fragen über deinen Weg. Es verbessert dich physisch und auch emotional, indem es die reparierten Strukturen besser macht als sie vorher waren.
  3. Resilienz und Widerstandskraft lernt man nicht aus Psychologie-Ratgebern oder dem Spiegel-Online Coaching ;), sondern nur aus der Erfahrung heraus. Sie ist eine Fähigkeit, die sich aus einer guten Lebensführung mit schönen Erlebnissen einerseits und positiv überstandenen Erfahrungen zusammensetzt. Die Lebensführung beinhaltet auch die Ernährung, denn sie ist die Basis für alle Prozesse in unserem Körper inklusive den psychologischen. Aber natürlich führt auch Training und Bewegung zu einer Verbesserung der Belastbarkeit (das ist ja schliesslich das eigentliche Ziel von Training) Meine eigene Resilienz ist das Resultat eines guten Lebensstils, und zeigt, wie auch du in jedem Alter widerstandsfähig und gesund bleiben kannst. Lebensstil schlägt Genetik, (fast) immer! 

Beitrag verbreiten

Kostenloser Infodienst

Jede Woche die neuesten Info-Beiträge von mir kostenlos, unverbindlich und direkt in deine Inbox. Einfach abonnieren: