Zeitwerte

In einem aus meiner Sicht Aufsehen erregenden Videomitschnitt hat der Philosoph Richard David Precht darüber gesprochen wie Geld und Zeit unsere Welt in den letzten Jahrzehnten/Jahrhunderten umgekrempelt haben. Er spricht darüber wie das Geld unsere Welt vergleichbar und transparent gemacht hat und damit andere Werte in den Hintergrund gedrängt hat. Das hat für großen Wohlstand gesorgt aber auch für den Verlust eben jener Werte.

In einem weiteren Gedankengang äußert er sich dazu, dass wir durch das Messen der Zeit uns das Gefühl schaffen keine zu haben. Das Kleinstückeln der Zeit bei der Arbeit und durch alle möglichen Technologien führt dazu, dass wir uns in ständiger Zeitnot befinden. Ich finde aber er vernachlässigt dabei einen ganz wesentlichen Gedankengang, der die beiden Themen miteinander verbindet und der eine enorme Auswirkung hat.

Ich bin jetzt kein Philosoph und kein so überragender Logiker wie RDP, aber ich kann ja einfach aussprechen oder aufschreiben was ich mir dabei denke. Wie also ist der Zusammenhang von Zeit und Geld? Wenn Sie jemanden für eine Dienstleistung bezahlen, dann geben sie dieser Person Geld für etwas, für das Sie selber keine Zeit haben oder es schlicht nicht selber erledigen können, weil Ihnen die Fertigkeiten dazu fehlen. Sie bezahlen also für die Zeit, die der andere für das Erledigen aufwenden muss und bei besonders hochwertigen Aufgaben sogar für die Zeit, die er beim Erwerben der Fähigkeiten gebraucht hat.

Das gleiche gilt übrigens beim Kauf von Produkten: Sie bezahlen zum einen den Wert des Materials, der wiederum in der Zeit besteht das Material zu gewinnen oder herzustellen und/oder Sie zahlen für die Zeit die Menschen für das Herstellen des Produktes aufgewendet haben. Rohmaterial wird nur wertvoll, weil es zu etwas von höherem Wert verarbeitet werden kann oder sehr begrenzt vorhanden ist. Und es ist um so wertvoller je weniger es davon gibt bzw. je schwieriger die Gewinnung ist. Alles Gold der Erde in einen Würfel gegossen würde einen Würfel von ca 20m Kantenlänge ergeben. Die Begrenztheit und die Schwierigkeit es zu entdecken und zu fördern machen seinen Wert aus.

Aber was ist Zeit und was macht sie so wertvoll, dass wir Geld und früher sogar Gold dafür bezahlen? Um das zu verstehen müssen wir uns vor Augen halten, dass diese Zeit Lebenszeit von Menschen ist. Und Lebenszeit von Menschen ist immer begrenzt. Und das wiederum macht sie auch rein ökonomisch gesehen so wertvoll. Was machen wir also, wenn wir eine Ware oder eine Dienstleistung eines anderen Menschen bezahlen? Wir bezahlen für die bei der Erbringung/Herstellung aufgewendete Lebenszeit. Damit ist Geld nichts anderes als geliehene Lebenszeit anderer Menschen!

Daher besteht der Luxus wirklich reicher Menschen aus der freien Zeit, die sie zur Verfügung haben. Ein Mensch, der für seinen Reichtum tagtäglich viele Stunden arbeiten muss und nicht dazu kommt den Wohlstand auch zu geniessen, ist nicht reich! Er hat nur viel Geld. Aber ohne die Zeit und die Freiheit es auszugeben ist dieses Geld nichts wert. Er ist gefangen in einem durchgetakteten System aus lauter Abhängigkeiten, die ihn im schlimmsten Falle komplett vereinnahmen, so dass nichts mehr von seinem Selbst übrig bleibt.

Wirklicher Reichtum besteht also eher darin die Lebenszeit für Dinge verwenden zu können, die einem wirklich Spaß machen und erfüllen. Und dafür muss man nicht super reich sein, sondern nur so viel haben, dass man sich seine Träume erfüllen kann. Interessanterweise trifft das auf die meisten von uns heute schon zu. Nur wissen und wertschätzen tun es die wenigsten!

Wir haben ein extrem verschachteltes und komplexes System von Wertschöpfung geschaffen, das zu durchschauen sogar für Volkswirte gar nicht mehr so einfach ist. Aber generell lassen sich einige Handvoll Kategorien erkennen, die heutzutage unsere Volkswirtschaften ausmachen. Da sind zunächst mal all jene, die Ihren Lebensunterhalt durch die direkte Arbeit Ihrer Hände und Ihres Geistes verdienen. Das sind Bauern, Handwerker, Angestellte und Arbeiter. Sie leisten etwas und werden dafür bezahlt. Und zwar von jenen, die mit der erbrachten Leistung oder den erzeugten Gütern handeln. Das ist der erste Hebel.

Durch aktuelle Absatzkanäle wie das Internet können viele Produkte und viele Dienstleistungen in ungeheuren Mengen verkauft werden, wodurch jedoch nicht der Arbeiter, sondern der Händler mehr Geld einnimmt. Viel mehr als in früheren Zeiten, weil das Internet einfach potenziell alle Menschen auf der Erde erreicht werden können. Zwei weitere Arten des Broterwerb bestehen darin, als Experte oder Unternehmer zu arbeiten. Unter die Experten zählen Architekten, Künstler, Sportler, Anwälte etc, gemeinhin Freiberufler, die einfach etwas so gut können, dass andere dafür Geld bezahlen.

Ein Unternehmer versucht eigentlich nichts anderes als seine Arbeitskraft auf viele andere Menschen zu übertragen und dadurch den Wert zu vergrößern. Das ist der zweite Hebel, denn hier wird über die Skalierung der Arbeitskraft die Anzahl der erzeugten Produkte und der möglichen Einnahmen vervielfältigt. Auch hier tritt Software und das Internet als Turbobooster auf und vergrößert die Einnahmen im besten Falle auf globale Dimensionen. Es wird also schon mit einer Abstraktion der Arbeitszeit gearbeitet.

Der nächste Hebel und bis zur digitalen Revolution bisher größte Hebel ist es mit der totalen Abstraktion der Lebenszeit zu arbeiten – mit Geld zu handeln. Bei dieser Form der Arbeit steht nicht mehr die Produktion irgendwelcher Waren oder Dienstleistungen im Vordergrund sondern nur das Ergebnis dessen. Nur diese vollkommene Abstraktion von der wirklichen Arbeit macht diesen unglaublichen Reichtum in Kreisen der Finanzwirtschaft möglich. Durch Zinssysteme wurde diese Form der Wirtschaft in eine Position gerückt, die, man kann es so sagen, durchaus weltbeherrschend ist. Ein Bezug zu den realen Werten der Arbeit und der Lebenszeit besteht nicht mehr und das könnte auch die Ursache für einen derartigen Realitätsverlust der Banker und die damit zusammenhängenden unglaublich hohen Gehälter und Boni sei, die diese Leute sich genehmigen.

In den letzten Jahren ist nun ein weiterer Abstraktionslevel auf den Plan getreten und schickt sich an den Handel mit Geld noch zu übertrumpfen. Es ist die Informationswirtschaft. Zu wissen, was die Menschen denken, fühlen und wünschen oder zumindest darüber mittels Big Data fundiert spekulieren zu können verspricht noch höhere Renditen. Das Internet ist quasi ein Katapult für diese Art der Wertschöpfung und welche Dimensionen das annimmt kann man alleine daran schon bemessen, dass die vorderen Plätze der Unternehmen mit der größten Marktkapitalisierung allesamt IT-Unternehmen sind: Apple, Google, Amazon, Microsoft, um nur einige zu nennen, denn die Reihe liesse sich noch lange fortsetzen. Ich glaube erst an fünfter Stelle kommt ein Rohstoffkonzern. Alle produzierenden Unternehmen liegen weit abgeschlagen dahinter.

Und diese digitale Revolution ist noch lange nicht beendet. Sie beginnt gerade erst. Die Unternehmen in der IT-Branche bereiten sich gerade auf die nächsten Wellen vor: künstliche Intelligenz birgt weiteres Potenzial für unermesslichen Reichtum und vielleicht bringt es sogar einen Zustand der Stabilität hervor, der uns endlich Frieden bringt, weil der Kampf um Ressourcen und Reichtum nicht mehr notwendig ist, wenn alle, alles haben können. Der wirkliche Knackpunkt liegt aber davor. Wenn künstliche Intelligenz sich von uns abkoppelt und vollkommen ohne uns weitermacht. Diesen Moment hat Ray Kurzweil Singularität genannt!

Denn er ist wie ein schwarzes Loch: Es gibt einen Ereignishorizont hinter den wir nicht blicken können und noch nicht einmal darüber spekulieren können, was danach passiert. Wann das eintritt ist umstritten, aber dass es eintreten wird, ist unstrittig. Sollten wir es tatsächlich schaffen die digitale Revolution nicht nur als „Pferde“, damit meine ich als Luxusspielzeuge der künstlichen Intelligenzen, zu überleben, dann sind wir vielleicht wirklich frei von derlei Kategorien, weil für unser Auskommen gesorgt ist. Welchen Preis wir auch dafür zahlen müssen ist allerdings noch offen. Wenn Sie das bis hier her gelesen haben, dann möchte ich mich für die Lebenszeit bedanken, die Sie meinem Gedankengang geschenkt haben. Es gibt nichts wertvolleres auf der Welt als die Lebenszeit eines anderen Menschen und ich hoffe ich konnte Ihnen etwas geben, was Sie noch nicht hatten oder wussten!

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