Als mein Vater mit 58 Jahren starb, stand ich ziemlich unter Schock. Als Mensch meiner Generation habe ich mir natürlich nichts anmerken lassen, denn „Männer weinen nicht“ und „Indianer kennen keinen Schmerz“ (so die hanebüchenen Erziehungsaussagen meiner ziemlich verkorksten Ursprungsfamilie dazu). Binnen Jahresfrist war ich jedoch ein völlig neuer Mensch: Ich hatte das Rauchen aufgegeben, meine Ernährung umgestellt, wieder mit Sport angefangen und 15 – 20kg Körpergewicht verloren. Der Schock saß dermaßen tief, dass ich meine Gewohnheiten ganz leicht umstellen konnte. Zumal sie auch noch aus abgeschautem Verhalten meines Vaters bestanden! Irgendetwas in mir hat mir gesagt: „Wenn du so weiter machst, wirst du das gleiche erleben wie er!“ Und dafür war ich mit Anfang 30 wirklich noch nicht bereit.
Aber irgendwie ist dabei etwas ganz Besonderes passiert. Ich habe gemerkt, wie gut mir diese neue Lebensweise tut und wie positiv meine Umwelt darauf reagiert. Mit dieser Art von Selbstwirksamkeit wird eine Veränderung zum Selbstläufer und das alte „Ich“ gehört ganz schnell der Vergangenheit an. Ich habe gewissermaßen die alten Stimmen, die mir immer wieder gesagt haben, ich solle dieses oder jenes tun oder lassen, zum Schweigen gebracht. Ich habe sie „ermordet“ und „begraben“. Ohne Groll und ohne Hass. Es war einfach vorbei mit uns! Und aus der Weg-von-Motivation wurde eine Hin-zu-Motivation.
Und das ist ja nun wirklich kein Einzelfall. Immer wieder treffen wir in der Öffentlichkeit und im Privaten auf Menschen, denen erst Schicksalsschläge oder schwere Krisen den Wert des eigenen Lebens offenbart haben und die ihr altes „Ich“ verschwinden lassen konnten. Spontan würden mir 5 oder 6 prominente Personen einfallen, denen es genau so ergangen ist. Und die teilweise sogar aus diesem Moment ihre Berühmtheit ableiten und mit ihrer Geschichte und ihren Erkenntnissen ganze Hallen füllen.
Erst im Moment des Schmerzes, egal ob emotional oder physisch, scheint uns manchmal diese Klarheit gegeben. Denn ich glaube in diesem Moment passiert etwas. Denn, was uns vorher vielleicht nie wirklich bewusst war, ist plötzlich Realität. Uns wird schlagartig klar, dass es einen Moment im Leben gibt, ab dem es keine Zukunft mehr geben wird: unser Tod! Und dieser kurze klare Moment bewirkt das Aufwachen aus unserer „Alltagstrance“. Aber jetzt doch noch nicht, denkst du! Und du erkennst, das hier ist so schwerwiegend – wenn du das lebend überstehst, kannst du alles verändern. Physiologisch werden dabei wohl so viele Neurotransmitter freigesetzt, dass bestimmte Schwellen in unserem Körper überschritten werden, die uns dann ermöglichen eine andere Haltung einzunehmen. (So oder so ähnlich dürfte wohl die wissenschaftliche Erklärung dazu aussehen).
Gewohnheiten und alte Verhaltensmuster verlieren in diesem Moment ihre Macht über dich. Dein altes „Ich“ ist in diesem Moment gewissermaßen gestorben. Nicht immer muss es ein derart traumatisches Erlebnis sein. Ich wünsche das keinem Menschen. Und beileibe auch nicht immer schaffen es Menschen aus einem traumatischen Erlebnis dieser Art eine Veränderung einzuleiten.
Leider schleppen manche Menschen solche Ereignisse ein ganzes Leben unbewusst mit sich herum, weil sie sich dem was passiert ist, nicht wirklich stellen wollen oder können. Besonders, wenn wir solche Sprüche hören wie „Die Zeit heilt alle Wunden“. Das mag für unseren Körper wirklich gelten. Für unseren Geist ist das meist nicht wahr. Es geht nämlich nicht ums Vergessen, sondern ums Verarbeiten: das Akzeptieren und Loslassen können.
Das Geschehene und die daraus entstandene Geschichte in uns, beeinflussen unterschwellig jede Entscheidung und jedes Verhalten. Denn immer sucht unser Geist nach einem Sinn für das Erlebte. Nicht selten wühlen deshalb kleinste Indizien in der Umwelt, Erinnerungen an ein altes traumatisches Erlebnis auf und setzen die Menschen unter starken emotionalen Stress. Auf den sie dann mit der immer gleichen Strategie reagieren: Sie versuchen sich immer und immer wieder eine Geschichte zu erzählen, die sie beruhigt, weil sie dem Ganzen einen Sinn verleiht! Aber es gibt keinen Sinn! Unfälle passieren. Menschen streiten sich. Naturkatastrophen ereignen sich.
Und auch wenn das jetzt für manche seltsam und völlig unromantisch klingen mag, viele Emotionen in uns, sind nichts anderes, als im Körper chemisch gespeicherte Erinnerungsreste. An die Details der Ereignisse können wir uns oft gar nicht mehr erinnern. Aber wir erzählen uns eine Geschichte, die das ganze plausibel zu machen scheint. Solche Emotionen beruhen auf unverarbeiteten Ereignissen der Vergangenheit. Normalerweise verarbeiten wir Erinnerungen im Schlaf. Das geschieht meist direkt im Anschluss an das Erlebnis. Aber wenn diese Verarbeitung nicht vollkommen abgeschlossen wurde, weil das Ereignis als überragend schlimm empfunden wurde (Arousal), bleibt ein Teil der unangenehm empfundenen Emotionen als chemischer Cocktail im Körper übrig. Und bei den kleinsten Anzeichen für eine Ähnlichkeit der Situation wird uns dieser Cocktail wieder „serviert“ und stresst uns.